Meilensteine unserer Geschichte
Das Evangelische Kinderheim Recklinghausen (heute: Evangelische Jugendhilfe Recklinghausen) ist die älteste Einrichtung des Diakonischen Werkes im Kirchenkreis Recklinghausen. Offiziell gegründet wird das Kinderheim am 22.10.1905 als „Ev. Waisenhaus für arme, körperlich und sittlich gefährdete Kinder aus zerrütteten und zerrissenen Familien“.
Das Grundstück an der Overbergstraße in Recklinghausen-Süd ist eine Stiftung des damaligen Bergbaudirektors und ist auch heute noch ein wichtiger Standort der Evangelischen Jugendhilfe Recklinghausen.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird der Raum im Evangelischen Kinderheim sehr eng. Die damalige Leitung setzt alle Kraft daran, den vielen aufgenommenen Kindern ein Überleben zu ermöglichen. In der anschließenden Inflationszeit scheint es oft so, als müsste das Haus aus finanziellen Gründen geschlossen werden.
Besonders schwierig wird die Situation unter den Nationalsozialisten, die konfessionelle Heime auflösen wollen. Während des Zweiten Weltkrieges wird Bruch aus finanzieller Not und um einen Zugriff des Staates zu verhindern, die Einrichtung an die Ev. Kirchengemeinde Recklinghausen verkauft.
Wegen der dauerhaften Luftangriffe erfolgt 1943 die Verlegung des Kinderheims nach Lübbecke in Westfalen.
Erst mit Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Rückkehr nach Recklinghausen möglich:
„Unter großen Schwierigkeiten konnten wir im Oktober 1945 wieder zurückziehen in unser ach so geliebtes verdemoliertes Haus. Keine Fenster, zerstörte Schornsteine und Dächer, ein Riesenloch in der Wand des damaligen Ess-Saals und Schlaf-Saals. Keine Türen zum Schließen, die Schlösser und Lampen zum Teil gestohlen und was sonst noch fehlte! Drei Artilleriegeschosse waren ins Haus gegangen und hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber trotz allem: Wir waren wieder ‚zu Hause‘, da beschlich uns immer wieder das Gefühl des Geborgenseins. Bei den Kindern äußerte sich die Freude in dem Ausruf: ‚Schwester Elise, das ist doch jetzt alles unser, das gehört nun alles jetzt wieder uns!‘ “
Mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg „kamen auch die Kinder in Scharen. Die Not dieser Ärmsten war größer denn je. Unsere Betten reichten nicht mehr aus. Es wurden Notlager zur Nacht gemacht. Kein Bettzeug, keine Bettwäschen, keine Kleidung reichte! Und doch standen wir immer wieder wie vor einem Wunder! Spenden kamen aus Amerika und England, und alles ging weiter. 1949 schon trugen wir uns mit dem Gedanken ausbauen zu müssen.“
Auch mit Hilfe der ortsansässigen Zechen kann das Evangelische Kinderheim 1951 räumlich so erweitert und gestaltet werden, dass mit der Einweihung wieder hundert Kinder aller Altersstufen aufgenommen werden können. „ ‚Endlich sind wir nun soweit, dass wir nicht schlafen mehr zu zweit.‘ So schlicht diese, (…) von zwei Kindern gesprochenen Begrüßungsworte klingen mögen, so liegt doch in ihnen die ganze Bedeutung dieser Tat und dieses Tages beschlossen.“
Trotz der guten Absichten wird eine Pädagogik praktiziert, die überwiegend mit Druck und Disziplinierung arbeitet.
Die Arbeit in dem damaligen Evangelischen Kinderheim ist, wie in vielen anderen Einrichtungen auch, von den herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen eines Ordnungs- und Eingriffsverständnisses bestimmt. Von diesem Verständnis ist damals auch, neben individuellem Fehlverhalten, das Erziehungsverhalten im Ev. Kinderheim geprägt.
In Reaktion auf die vielfältige Kritik an der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren entwickelte sich Anfang der 2000er Jahre eine breite öffentliche und fachliche Diskussion zur Aufdeckung und Aufarbeitung von Gewalterfahrungen auch in kirchlichen Institutionen.
Die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 2020 beauftragte ForuM-Studie bestätigt, dass es in der Evangelischen Kirche und Diakonie sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in größerem Ausmaß gegeben hat, als bislang angenommen.
1966 geht die Trägerschaft für das Evangelische Kinderheim an den neugegründeten Synodalverband für Innere Mission e.V., dem heutigen Diakonischen Werk im Kirchenkreis Recklinghausen gGmbH.
Mit dem Trägerwechsel wird eine grundlegende Neuorientierung entschieden. So soll die Einrichtung zukünftig nicht mehr unter der Leitung von Diakonissen geführt werden und sich fachlich auch als Einrichtung für entwicklungsauffällige Kinder und Jugendliche qualifizieren. So erfolgte beispielsweise 1970 die erstmalige Einstellung eines Psychologen.
Die Sozialpädagogik orientiert sich damals völlig neu. Es geht weg von der kasernenähnlichen Unterkunft für Kinder in isolierten Einrichtungen, getrennt nach Alter und Geschlecht, hin zu familienähnlichen Gruppen mit Teilhabe am öffentlichem Leben.
Das Evangelische Kinderheim soll diesen Anforderungen auch baulich gerecht werden. Die Kinder erhalten durch neu gestaltete räumliche Verhältnisse ein Stück mehr Normalität in Richtung Familienleben. Der Neubau von zwei Gruppenhäusern unter Einbeziehung des Altbaus trägt 1986 Verwirklichung bei.
Die Bemühungen um eine innere und äußere Neustrukturierung führen zu der Einrichtung von Außenwohngruppen und der Eröffnung der ersten Tagesgruppe im Jahr 1987.
Im Jahr 1989 übernimmt eine neue sozialpädagogische Leitung das Evangelische Kinderheim. In einem fortlaufenden Qualitäts-Dialog mit den hiesigen Jugendämtern wird eine Neuorientierung initiiert, die wesentliche strukturelle, personelle und inhaltlich-konzeptionelle Veränderungen umfasst.
Im Jahr 1990 erfolgt eine fachspezifische Differenzierung mit der Eröffnung der Aufnahmegruppe, heute Mini-Kid mit Mini-Mumm, und die Erweiterung der Angebotsstruktur um das Sozialpädagogisch Betreute Wohnen. Eine Verringerung der Platzzahl in den Wohngruppen, die Erhöhung des Stellenschlüssels, die Schließung der Großküche mit Umstellung auf Selbstversorgung sowie die Alters-, Perspektiven- und Beratungs-differenzierung sind weitere Merkmale der Umstrukturierung.
Mit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes im Jahr 1991 wird diese Neuorientierung durch den Gesetzgeber gestärkt. Kinder, Jugendliche und Eltern haben jetzt einen Rechtsanspruch auf Unterstützung und Beteiligung.
Die Einrichtung ergreift die damit verbundenen Chancen und entwickelt Anfang 2000 Angebote wie die Flexible Betreuung, die Jugendhilfestation in Waltrop und die Beratung für Westfälische Pflegefamilien (WPF). Parallel dazu erfolgt die Auseinandersetzung mit Fachthemen wie Lebensweltorientierung, ressourcenorientierte Arbeit mit Familien und pädagogischer und therapeutischer Umgang mit sexualisierten Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen.
Die fachliche Qualifizierung der Arbeit wird durch kontinuierliche Fort- und Weiterbildung für die pädagogischen Mitarbeiter*innen unterstützt.
Im Jahr 2003 beginnt ein neues Kapitel: Regionale Diakonische Werke des Kirchenkreises Recklinghausen schließen sich zu einem gemeinsamen Sozialunternehmen zusammen.
Im Zuge der Neuorganisation wird das Evangelische Kinderheim mit seinen stationären und teilstationären Angeboten als Dienststelle in das neue Geschäftsfeld Erziehung und Förderung überführt.
Die Jugendhilfestation Waltrop und die Flexible Betreuung als ambulante Bereiche des Evangelischen Kinderheimes werden mit den ambulanten Diensten der ehemaligen regionalen Werke Ostvest, Herten und Marl-Haltern zusammengeführt. Es entsteht die neue Dienststelle Ambulante Jugendhilfe.
Das Heilpädagogische Zentrum in Marl wird die dritte Dienststelle im Geschäftsfeld.
In einem weiteren Schritt der Neuorganisation werden 2010 die teilstationären Angebote und die Flexible Betreuung zu der vierten Dienststelle Flexible Hilfen.
Mit der strukturellen und personellen Stärkung des Geschäftsfeldes Erziehung und Förderung durch seine verschiedenen Dienststellen gelingt die zielgruppenspezifische Erweiterung und Ausdifferenzierung der Angebote. Gleichzeitig entwickelt sich das fachlich-inhaltliche Profil weiter.
Neben stark individualisierten Wohn- und Betreuungskonzepten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und Stärkung der Eigenverantwortung der Mitarbeiter*innen rückt der institutionelle Kinderschutz in den Vordergrund.
Mit dem im Jahr 2012 verabschiedeten Bundeskinderschutzgesetzes werden im Geschäftsfeld weitere präventive Strukturen und Abläufe geschaffen, u.a. werden ein Kinderrechtekatalog und strukturell verankerte Beschwerde- und Beteiligungsverfahren für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsenen entwickelt.
Das Jahrzehnt 2010 bis 2020 wird auch durch einschneidende äußere Veränderungen geprägt: 2015/2016 muss die Flüchtlingskrise bewältigt werden, 2020 der Ausbruch der Pandemie.
Einsatzbereitschaft und Erfindungsreichtum der Mitarbeiter*innen machen es möglich, auch in diesen Krisen für Kinder, Jugendliche und Familien weiter da zu sein.
In vielen Gesprächen und Partizipationsprozessen mit Eltern, Kindern und Jugendlichen wird deutlich, dass der Name der Einrichtung „Evangelisches Kinderheim“ von ihnen zunehmend stigmatisierend und ausgrenzend erlebt wird. Die mit der Bezeichnung „Kinderheim“ in der Öffentlichkeit häufig verbundenen negativen Bilder stehen für sie im Widerspruch zu ihrem erlebten Alltag in den Wohngruppen und ihren Erfahrungen mit der Einrichtung.
Vor diesem Hintergrund wird 2019 entschieden, das Evangelische Kinderheim Recklinghausen als erste Dienststelle unter dem neuen Namen Evangelische Jugendhilfe Recklinghausen zu führen.
2022 werden die Dienststellen Ambulante Jugendhilfe und Flexible Hilfen als eine Dienststelle ebenfalls unter dem neuen Namen Evangelische Jugendhilfe Recklinghausen (EJR) zusammengeführt.
Seither gestalten und verantworten beide Dienststellen die EJR gemeinsam.